Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.
Liebe Gemeinde,
seit 1991 wird das sogenannte „Unwort des Jahres“ gekürt. Dabei handelt es sich um ein Wort, das innerhalb eines Jahres besonders negativ aufgefallen ist. Weil es zum Beispiel gegen das Prinzip der Menschenwürde oder gegen die Prinzipien der Demokratie verstößt. Oder weil es eine gesellschaftliche Gruppe diskriminiert. Oder weil es einen Sachverhalt beschönigt oder verschleiert. Oder weil es irreführend ist. Jeder und jede kann einen entsprechenden Vorschlag einreichen. Die Entscheidung fällt schließlich eine unabhängige Jury aus Sprachwissenschaftlern und Vertretern der öffentlichen Sprachpraxis – zumeist sind dies Schriftsteller und Journalisten. Die „Unworte“ der beiden letzten Jahre waren übrigens „Remigration“ und „Klimaterroristen“. Im Januar nächsten Jahres werden wir wissen, was das „Unwort 2024“ ist. Vielleicht ist es schon jetzt in aller Munde, vielleicht wurde es noch gar nicht ausgesprochen.
Neben echten „Unworten“ gibt es aber auch solche Worte, die besser sind als ihr Ruf bzw. die besser sind, als sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. Zu ihnen gehört für mich das Wort „Heimsuchung“. Es hat allgemein einen schlechten Ruf. Denn man bringt es mit Schicksalsschlägen, Unglücksfällen, Tragödien und Katastrophen aller Art in Verbindung. Und zwar mit solchen, die einen überraschend und unvorbereitet treffen und denen man daher oft hilf- und schutzlos ausgeliefert ist. Ein Blick in den Duden zeigt jedoch: Das Wort „Heimsuchung“ muss nicht unbedingt negativen Charakter haben. Es bedeutet nämlich: „jemanden in feindlicher oder freundlicher Absicht aufsuchen“. Auch die Bibel bestätigt die Doppeldeutigkeit des Begriffs. „Heimsuchung“ steht hier für einen „strafenden oder rettenden Eingriff Gottes in das menschliche Leben“. Und wenn ich mir das Wort „Heimsuchung“ einmal auf der Zunge zergehen lasse, dann beginnt es sogar, mir zu gefallen. Ich werde „heim-gesucht“ – das heißt doch: Ich werde „nachhause-gesucht“. Jemand geht mir nach oder jemand kommt mir entgegen, um mich heimzuholen, um mich nach Hause zu bringen. Für die meisten Menschen ist das eine schöne Vorstellung.
Im heutigen Predigttext wird jedoch davon berichtet, dass sich jemand nicht heimsuchen lassen möchte. Die Rede ist von der Stadt Jerusalem. Sie will sich nicht heimsuchen, sie will sich nicht nach Hause bringen lassen. Und daher weint Jesus über die Stadt. Denn er sieht ihre Eroberung und die Zerstörung des Tempels rund vierzig Jahre später durch die Römer voraus. Ich lese einen Abschnitt aus dem 19. Kapitel des Lukasevangeliums:
Die Stadt Jerusalem will sich nicht heimsuchen, sich nicht nach Hause bringen lassen. Sie will nicht erkennen, dass ihr jemand nachgeht. Sie will nicht erkennen, warum ihr jemand nachgeht. Und sie will den nicht erkennen, der ihr nachgeht: nämlich Jesus. Und darum weint Jesus über die Stadt und die Menschen, die in ihr leben. Hätten die Menschen von Jerusalem diese Klage Jesu gehört und seine Tränen gesehen, sie hätten wahrscheinlich zu ihm gesagt: „Lieber Jesus, wegen uns musst du doch nicht weinen! Wir sind Gottes auserwähltes Volk, ausgezeichnet vor allen anderen Völkern auf Erden. Und wir leben in Jerusalem – der heiligen Stadt, der Stadt des Tempels, dem Ort der Gegenwart Gottes auf Erden. Warum willst du uns denn heimsuchen? Warum willst du uns denn heimholen? Wir sind doch daheim!“
Wir sind daheim! Ich denke, ich würde dasselbe antworten, wenn ich wüsste: Jesus weint im Blick auf die Versöhnungskirche und im Blick auf mich, die ich zur Versöhnungskirche gehöre. Ich würde Jesus antworten: „Lieber Jesus, wegen mir musst du doch weinen! Vielleicht dann und wann ein wenig über mich seufzen, aber doch nicht gleich weinen. Ich weiß auch gar nicht, warum du mich heimsuchen, warum du mich nach Hause bringen willst! Israel ist das Volk des alten Bundes, und ich gehöre zum Volk des neuen Bundes, zu deiner Kirche. Ich bin getauft, ich bin konfirmiert, ich gehe zum Gottesdienst und ich feiere das Abendmahl. Ich bin daheim! Warum solltest du mich heimsuchen wollen?“
Ich bin daheim. Ja. Aber ich merke auch, dass vieles nicht so ist, wie es sein sollte – in der Welt und bei mir selbst. Ich merke, dass vieles nicht ganz und heil ist – in der Welt und bei mir selbst. Ich merke, dass vieles im Leben nicht aufgeht. Dass das Leben einerseits anfällig und verwundbar ist. Dass es andererseits aber auch Wunden schlägt. Dass es richtig wehtun und einem Angst machen kann. Ich merke, dass es Dinge gibt, die ich einfach nicht verstehe, und Fragen, auf die ich keine Antworten finde. Und dann kommt die Sehnsucht – die Sehnsucht nach Sicherheit. Die Sehnsucht zu wissen, dass alles gut wird. Dass einem nichts, aber auch gar nichts passieren kann. Dass ich mich vor nichts und niemandem fürchten muss. Die Sehnsucht nach Geborgenheit. Und dann wird mir klar: Ich bin doch noch nicht daheim. Ich bin noch nicht zu Hause, sondern noch auf dem Weg.
Und dann will ich doch heimgesucht werden. Eben weil so vieles unklar und ungewiss ist. Weil so vieles komplex und kompliziert ist in dieser Welt. Weil es so vieles gibt, das einen mutlos und verzagt sein lässt. Weil es so viele Fragen und so wenige Antworten gibt – geschweige denn einfache Antworten. Ich will doch heimgesucht werden. Ich will, dass mir jemand nachgeht bzw. entgegenkommt, um mich nach Hause zu führen. Damit ich unterwegs nicht verloren gehe. Damit ich tatsächlich irgendwann ankomme. Ich will, dass Gott mir nachgeht. Dass Gott mir entgegengeht und mich heimsucht. Ich brauche solche „Heimsuchungen“ Gottes. Ich brauche die Gewissheit, dass ich auf dem Weg nach Hause bin. Zwar noch auf dem Weg, aber auf dem Weg nach Hause. Ich brauche Gottes „Heimsuchungen“ – immer wieder.
Für mich ist die Versöhnungskirche ein solcher Ort der „Heimsuchung“ Gottes – und zunehmend auch die Matthäuskirche am Trätzhof. Sie sind ein Ort der Gewissheit und des Vorgeschmacks auf das, was noch kommt. Es zieht mich immer wieder hierher – auch außerhalb der Gottesdienste, während der Woche. Ich setze mich dann in eine der Reihen und genieße die Vertrautheit des Raumes – den vertrauten Anblick, den vertrauten Geruch. Ich genieße die Geborgenheit, die der Raum ausstrahlt. Ich genieße die Ruhe, die hier herrscht, auch wenn es draußen trubelig ist. Irgendwann wird mein Blick unweigerlich nach vorn gezogen – auf den Altar, auf das Kreuz. Und dann ist es gut. Dann gibt es keine Fragen. Dann fühle ich mich daheim. Dann bin ich tatsächlich heimgesucht. Das passiert nicht immer, aber immer wieder einmal. Es passiert auch nicht dauerhaft, aber zumindest für einen Moment, für einen Augenblick. So, dass es dann wieder weitergeht. Ein bisschen zuversichtlicher, ein bisschen getrösteter, ein bisschen gestärkter.
Ich wünsche uns allen hin und wieder eine solche „Heimsuchung“ Gottes – einen Moment, in dem wir spüren: Gott geht mir gerade nach. Gott kommt mir gerade entgegen, um mich heimzusuchen, um mich nach Hause zu suchen. Damit ich auf dem Weg durch dieses Leben nicht verloren gehe. Vielleicht geht er mir in einer unserer Kirchen oder in irgendeiner anderen Kirche nach. Vielleicht in der Begegnung mit einem anderen Menschen. Vielleicht kommt Gott mir im Gebet oder beim Lesen der Bibel oder bei einem Spaziergang durch den Wald entgegen. Wie auch immer. Aber immer so, dass es dann wieder weitergeht. Ein bisschen zuversichtlicher, ein bisschen getrösteter, ein bisschen gestärkter. Und manchmal vielleicht auch so, wie es von dem Kämmerer aus Äthiopien heißt: „Er sog seine Straße fröhlich.“
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Heiland und Herrn. Amen.