Predigt am 23.03.2025

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Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen. 

Liebe Gemeinde, 

wir sind fast in der Mitte der Passionszeit angekommen. Viele Menschen nutzen diese Zeit, um zu fasten. Oder zumindest: um zu verzichten. Sie erlauben sich im Moment nicht alles. Sie erlauben sich etwas von dem nicht, was sonst für sie selbstverständlich ist oder fest zu ihrem Leben dazugehört. Wenn auch Sie zu diesen Menschen gehören, werden Sie sich vermutlich fragen, wie der heutige Predigttext aus dem 20. Kapitel des Jeremiabuches in die Passionszeit hineingeraten ist. Dort sagt nämlich der Prophet Jeremia: „Alles ist erlaubt! Und zwar immer und überall, also auch jetzt in dieser Zeit!“ Alles ist erlaubt! Das hört man natürlich gern – grenzenlos wie wir Menschen oft sind in unserem Wollen, in unserem Reden und Handeln, im Kleinen wie im Großen. Doch lassen wir den Propheten Jeremia selbst zu Wort kommen:

7 Herr, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich.

8 Denn sooft ich rede, muss ich schreien; »Frevel und Gewalt!« muss ich rufen. Denn des Herrn Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich.

9 Da dachte ich: Ich will seiner nicht mehr gedenken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer, verschlossen in meinen Gebeinen. Ich mühte mich, es zu ertragen, aber konnte es nicht.

10 Denn ich höre, wie viele heimlich reden: »Schrecken ist um und um!« »Verklagt ihn!« »Wir wollen ihn verklagen!« Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle: »Vielleicht lässt er sich überlisten, dass wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen.«

11 Aber der Herr ist bei mir wie ein starker Held, darum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen. Sie müssen ganz zuschanden werden, weil es ihnen nicht gelingt. Ewig wird ihre Schande sein und nie vergessen werden.

12 Und nun, Herr Zebaoth, der du die Gerechten prüfst, Nieren und Herz durchschaust: Lass mich deine Rache an ihnen sehen; denn dir habe ich meine Sache befohlen.

13 Singet dem Herrn, rühmet den Herrn, der des Armen Leben aus den Händen der Boshaften errettet!

Vielleicht sagen Sie jetzt: Naja, von „Alles ist erlaubt!“ habe ich in diesem Abschnitt aber nichts gehört. Geschweige denn von „Immer und überall!“. Da ist vielmehr von jemandem die Rede, der Gott sein Leid klagt. Und das stimmt. Jeremia hat es nicht leicht als Prophet. Eigentlich wollte er überhaupt nicht Prophet werden. Er fühlte sich schlichtweg zu jung dafür. Aber Gott hat einfach nicht lockergelassen. Und letztlich war Gott zu stark für ihn. So hat Jeremia schließlich nachgegeben. Und nun muss er täglich Hohn und Spott über sich ergehen lassen. Er schreit sich – im wahrsten Sinn des Wortes – für Gott heiser. Er nennt Unrecht beim Namen und kündigt den Menschen die Strafe dafür an. Doch die machen sich über ihn lustig, weil nichts passiert. Besonders schlimm ist für Jeremia, dass sich seine früheren Freunde gegen ihn wenden. Aber von Gott schweigen, kann Jeremia auch nicht. Gottes Worte in sich verschließen, geht einfach nicht. Es würde ihn innerlich zerreißen. So bleibt Jeremia nichts weiter übrig, als weiterzumachen – und Gott sein Leid zu klagen. Das Gespräch mit Gott zu suchen. Zu beten. Und eben in diesem Gespräch mit Gott, im Gebet ist alles erlaubt. 

Alles ist erlaubt im Gebet. Sonst natürlich nicht. Sonst gelten Grenzen. Gott hat sie uns in den Zehn Geboten selbst gegeben. Doch im Gebet ist eben alles erlaubt. Das führt uns der Prophet Jeremia im heutigen Predigttext eindrücklich vor Augen. Und er gibt dafür drei Beispiele. 

Alles ist erlaubt im Gebet – zuallererst das Klagen. Jeremia ist viel am Klagen. So viel, dass seine Klagen im Buch Jeremia sogar gezählt werden. Der Predigttext ist seine bislang fünfte Klage. Jeremia spricht sich Gott gegenüber alles von der Seele, was ihm das Leben schwermacht. Er klagt über sich selbst und über seine eigene Schwäche. Er klagt über die Menschen um ihn herum, die ihn schmähen und verspotten und ihm mit Feindseligkeit begegnen. Nicht zuletzt klagt er auch über Gott. Denn Gott war nicht fair zu ihm. Er hat ihn zum Prophetenamt „überredet“. Wobei das untertrieben ist. Denn Jeremia verwendet hier ein Wort, das an anderer Stelle für die Verführung eines Mädchens gebraucht wird. Gott hat also seine jugendliche Unerfahrenheit ausgenutzt und ihn in den Prophetendienst förmlich hineingezwungen. Jeremia redet hier vor Gott, wie es ihm gerade in den Sinn kommt. Er gibt seinen Gefühlen freien Lauf. Er spricht ganz und gar ungeschützt vor Gott. Und er tut das, weil er weiß: Gott hält das aus. Und: Gott wird das, was er da ganz und gar ungeschützt von sich gibt, nicht gegen ihn verwenden. 

Nicht nur Propheten wie Jeremia dürfen klagen, sondern auch wir. Alles, was in uns ist an Leid, an Verletzungen und Enttäuschungen, an Wut und Nicht-Verstehen-Können – sei es in Bezug auf uns selbst oder auf andere, in Bezug auf Gott oder die Welt, in der wir leben: Alles darf heraus im Gebet. Alles ist erlaubt im Gebet. Alles muss sogar heraus, damit es sich nicht festsetzen und noch mehr Schaden anrichten kann. Alles herunterschlucken, alles in sich hineinfressen, alles schweigend hinnehmen, was einem selbst und anderen widerfährt – das haben die Menschen, von denen die Bibel erzählt, nicht getan. 

Alles ist erlaubt im Gebet. Man könnte auch sagen: Es gibt im Gebet keine Tabus. Das führt der Prophet Jeremia besonders mit seinem zweiten Beispiel vor Augen. Alles ist erlaubt im Gebet – sogar der Wunsch nach Rache und Vergeltung. Jeremia sagt: „Und nun, Herr Zebaoth, der du die Gerechten prüfst, Nieren und Herz durchschaust: Lass mich deine Rache an meinen Verfolgern sehen; denn dir habe ich meine Sache befohlen.“ Es ist nicht das erste Mal, dass Jeremia seinen Peinigern – im wahrsten Sinne des Wortes – die Pest an den Hals wünscht. Und bei nicht wenigen Psalmbetern steht sogar der Tod ihrer Feinde auf ihrer ganz persönlichen Wunschliste. Darf man so beten? Ist das wirklich erlaubt? 

Jeremia bittet Gott um die Bestrafung seiner Verfolger. Gott soll an ihnen Rache üben. Dabei ist zu beachten, dass sich das Wort „Rache“ vom Wort „Richten“ ableitet. Mit anderen Worten: Gott soll der Gerechtigkeit zu ihrem Recht verhelfen. Er soll gerecht richten. Dennoch bittet Jeremia Gott um den Untergang anderer. Jeremia legt mit seiner Bitte aber auch alles Gott in die Hände. Gott allein. Jeremia lenkt mit seiner Bitte seine Rachegedanken von sich selbst weg und hin zu Gott. Und er weiß: Gott ist kein Mensch. Gott wird nicht blindlings drauflos schlagen. Gott lässt sich auch nicht unter Druck setzen oder manipulieren – weder von Jeremia noch von irgendjemand anderem. Jeremia bittet Gott um den Untergang anderer. Ja. Aber wer so bittet wie, der wird nicht selbst Rache üben. Im Gegenteil: Wer so bittet wie Jeremia, der verzichtet auf Rache und stellt sie Gott anheim. Die Bitte, das Wort ersetzt die Tat. 

Ich habe noch nie etwas erlebt von dem, was Jeremia und manche Psalmbeter Gott im Gebet entgegenschreien. Und dafür bin ich sehr dankbar. Aber es gibt Menschen – irgendwo in der Welt, die die gleiche Verzweiflung spüren und den gleichen Hass erfahren wie Jeremia und diese Psalmbeter. Menschen, die ohnmächtig sind gegenüber der Ungerechtigkeit, der Unfreiheit und der Gewalt, die sie erleiden. Und für sie ist im Gebet alles erlaubt – auch solche Rache- und Vergeltungsgedanken. 

Alles ist erlaubt im Gebet. Das dritte Beispiel, das Jeremia vor Augen führt, ist nicht nur erlaubt, sondern eigentlich sogar geboten. Kein Gebet ohne es. Kein Gebet ohne Lob. Jeremia sagt am Ende seiner Lebensklage: „Singet dem Herrn, rühmet den Herrn, der des Armen Leben aus den Händen der Boshaften errettet!“ Eben noch ist Jeremia von Rachegedanken erfüllt und im nächsten Augenblick ruft er zum Lob Gottes auf. Wie geht das? Und warum fängt er jetzt schon an zu loben? Es hat sich an seiner Situation doch noch gar nichts verändert. Jeremia ist noch immer Hohn und Spott und wachsender Feindseligkeit ausgesetzt. 

Es mag sein, dass sich an Jeremias Situation noch nichts verändert hat. Aber nun ist alles raus. Nun ist alles bei Gott. Und Jeremia ist wieder frei. Er ist befreit. Sein Leben und seine Zukunft liegen in Gottes Hand. Und daher beginnt Jeremia zu singen und zu rühmen. Und er fordert seine Mitmenschen auf, in dieses Lob Gottes einzustimmen. Gott zu danken. Dafür, dass Gott hört. Dafür, dass Gott uns Menschen zuhört. Dass Gott da ist. Für jeden Einzelnen. Dafür, dass niemand jemals bei Gott vergessen ist noch von ihm fallengelassen wird. 

Es hat einmal jemand gesagt: „Loben ist Danken auf Vorschuss.“ Loben ist Danken auf Vorschuss für eine Hilfe, die konkret noch gar nicht da ist. Für eine Hilfe, die vielleicht auch gar nicht so eintreffen wird, wie ich es mir vorstelle oder wünsche. Gott loben, das bedeutet: Ich erkenne Gottes Größe und Güte, seine Gerechtigkeit und seine Barmherzigkeit an, auch wenn davon in meinem ganz persönlichen Leben im Moment nichts zu spüren ist, auch wenn sich Gottes Größe und Güte, seine Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in meinem Leben im Moment überhaupt nicht niederzuschlagen scheinen. Oder anders gesagt: Ich habe im Moment vielleicht noch gar keinen Grund, Gott zu danken. Weil es mir gerade sehr schlecht geht, weil ich krank oder traurig bin oder weil die Sorgen und Probleme des Alltags überhand nehmen. Weil ich leide, Schmerzen habe, weil sich alles gegen mich verschworen hat oder weil ich ungerecht behandelt werde. Aber trotzdem will ich Gott loben – dafür dass er ist, wer er ist, nämlich der Schöpfer und Herr dieser Welt ebenso wie meines ganz persönlichen Lebens. 

Wir sind fast in der Mitte der Passionszeit angekommen. Auch wenn Sie sich im Moment nicht alles erlauben, sondern auf das eine oder andere verzichten: Erlauben Sie sich doch in der restlichen Passionszeit das Gebet. Und darin ist wirklich alles erlaubt. Zuallererst das Klagen. Wenn es sein muss, auch die Gedanken, über die ich mich erschrecke und für die ich mich im nächsten Augenblick schäme: meine Gedanken der Rache und der Vergeltung. Und nicht zuletzt und ganz besonders ist im Gebet das Loben erlaubt, das Danken auf Vorschuss. 

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Heiland und Herrn. Amen.